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  • AutorenbildSylvia Thiel

Leben im Fischerdorf Vila Estevão- Januar 2020

Aktualisiert: 5. Feb. 2020


Das kleine Fischerdorf Vila Santo Estevão liegt östlich von Canoe Quebrada, abseits des Touristen-Spots, zwischen den weiten Sanddünen und den ockerfarbenen Lehmklippen. Die Landesregierung erklärte die Gemeinde 1998 zusammen mit den kleinen "Piscinas naturais", den natürlichen Wasserpools unten am Meer, die bei Ebbe entstehen zu einem Umweltschutzgebiet, um diese Naturschönheit, die Kultur und Sozialstruktur der Fischergemeinde und ihre Landrechte vor einfallenden Immobilienspekulanten zu wahren.


Estevão erhielt seinen Namen von einer Familie, die 1932 in Canoe Quebrada ("Zerbrochenes Kanu") ankam und ein kleines Lehmhaus baute.

In dem Spielfilm Bela Donna (1998) des brasilianischen Regisseurs Fábio Barreto bettet der Filmemacher eindrucksvoll die ziemlich verklärte Liebesromanze zwischen einer englischen Lady und dem talentierten Sohn einer einheimischen Fischerfamilie in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in die malerische Kulisse der Sanddünen und des Meeres von Canoe Quebrada. Er widmet auch einige Szenen traditionellen Tänzen und des Gemeinschaftslebens der Bewohner.


So viel sei verraten: Es gibt kein Happy End! Aber es ist ein sehenswerter Film, wenn ich auch keinen so schönen "Fisherman" hier erblicken konnte!


Mit diesem Kopfkino spaziere ich einmal mehr durch das Dörfchen, wo mich die Dorfbewohner mit ihren strahlenden sonnengebräunten Gesichtern freundlich und mit ungenierter Neugier für mich, einer "Branca", grüßen oder mir zuwinken. Mittlerweile sind sie mir sehr vertraut. Ich mag diese ungezwungene, familiäre Nähe und außer meiner Herkunft finden sie erstmal nichts bemerkenswert an meinem Leben.


Ihre robusten Häuschen wirken manchmal schlicht und rauh, aber sie strotzen den kräftigen Winden und der beständigen Salzluft. Und trotz des bescheidenen und spontan eingerichteten Lebens in ihrem Innern wirken ihre Bewohner glücklicher und zufriedener als manch gehetzter und konsumhungriger Europäer. (Slide here!)

Neben den raubeinigen und immer argwöhnisch dreinschauenden alten "Pescadores" bemerke ich aber auch einige junge Leute, die sich mit einer den Touristenwellen angepassten neuen Arbeit hier niedergelassen haben und das kleine Dörfchen mit originellen Ideen ein Stück reicher und mit farbigen Trends attraktiver machen ohne die natürlichen Gegebenheiten zu beeinträchtigen. Sie bereichern ihre Dorfgemeinschaft mit klugem Blick in die Zukunft und nehmen ihr Dorf als Schutzgebiet sehr ernst.


Weiter oben in Canoe Quebrada ist das allerdings schon anders...


Dass die alten Traditionen der Fischer und die jungen innovativen Ideen wie die von Layla, Faride, Doria, Jussialem, Pablo und Vito...so harmonisch nebeneinander leben und man so manche Idee geduldig wachsen lässt, liegt wohl vor allem an einem intakten Gespür der Leute für Toleranz und Gemeinschaft. Jeder verrichtet seinen Teil der Arbeit, unabhängig seines Alters oder seines Vermögens, um das bescheidene Dasein seiner Familie zu sichern, aber auch, um der Gemeinde Gewinn zu bringen. Jeder tut das, wozu er Lust hat. Alle haben etwas davon. Und egal, was, es ist gut für jedermann. Alle sind irgendwie zufrieden. Alle reden miteinander. Et voilà.


Durch ein Airbnb-Inserat logiere ich in dem Haus von Layla mit ihrem 11jährigen Sohn Cedrik und Faride mit ihrem 8jährigen Juano mitten in diesem Dorf so alteingesessener Einheimischer. Sie nehmen mich so selbstverständlich auf, dass ich mich für die nächste Zeit genau so fühle: "Mi casa es su casa." Ich bewohne den hinteren Teil des Häuschens, ein kleines Studio mit herrlichem Ausblick auf das Dorf und in die Dünen. Zum Strand hinunter laufe ich keine fünf Minuten. Genauso hätte ich es gern irgendwann einmal später..


Die beiden jungen brasilianischen Frauen sind auch ziemlich taffe Unternehmerinnen, die an ihrem Traum hartnäckig arbeiten, mit einem Atelier, dem "ZaZen", finanziell unabhängig zu sein, und mit der Arbeit, die sie leidenschaftlich gern machen: Mode zu kreieren, in der Ayurveda-Therapie zu arbeiten und in einem Café gesunde Snacks anzubieten. Dazu mehr in: Begegnungen > ZaZen - mehr als nur ein Modeatelier.


Daria, eine Freundin, wohnt ebenfalls mit uns. Sie hilft ihrem Vater, sein Kunsthandwerk herzustellen und am "Broadway" zu verkaufen. Sie möchte bald nach Australien, bei einer Tante unterkommen und eine Arbeit suchen.


Ein paar Schritte von dem Atelier entfernt stoße ich auf das interessante Projekt

"Ricicriança", einen Kinder- und Jugendclub, den der Landrat finanziell fördert. Es vereint Kinder und Jugendliche der Umgebung in einer gemeinsamen Freizeitgestaltung. In der Bibliothek bekommen sie auch Unterstützung bei Schulaufgaben und können in Kursen besonders künstlerische Begabungen ausleben. Aus Recycling-Materialien werden neue Objekte produziert mit, wie ich finde, einem handwerklich-künstlerischen Wert. Die Kinder musizieren zusammen in der Klangwerkstatt oder spielen auf dem Spielplatz oder draußen auf dem Sportgelände ihren heißbeliebten Fußball. Freundlicherweise erklärt mir Artur bei einem spontanen Anklopfen die Arbeit von ..., der einzigen Betreuerin hier. Frauen des Dorfes unterstützen sie.

Es finden sich noch mehr originelle Ideen auf meinem Weg durch das Dorf.

Das Atelier "Reci Criar" verarbeitet künstlerisch jede Art von Glasflaschen zu neuen kreativen Ideen.


Alle Außenwände der Werkstatt einschließlich ihrer Terrasse bestehen aus gebrauchten Glasflaschen, die mit Beton zusammengehalten werden.


Ein Flaschenvorhang teilt die Terrasse.


In dem großen Ausstellungsraum finden sich die verschiedensten handgefertigten Objekte aus gebrauchtem Flaschenglas. Aus den geleerten Flaschen hier gängiger Biersorten entstehen nun die passenden Gläser in allen Formen und Farben. Aus Flaschenhälsen sind Gewürzstreuer geformt. Kleine und große Vasen, Kerzenhalter und sogar ausgefallene Lampen und Hängeleuchter verzieren den Raum.

Ich staune wirklich über den Einfallsreichtum und auch immer wieder darüber, wie aus recycelten Material derart Geschmackvolles und Funktionales neu entsteht.


Und ein klein wenig Hoffnung wird in mir erweckt, dass in Zeiten umweltpolitischer Abkehr in Brasilien stiller Widerstand gelebt wird. Es ist gut zu wissen, dass es gerade hier in einem traditionsreichen und natürlich schönem Dorf geschätzt wird.


Ein Mal im Monat veranstaltet die Besitzerin des Ladens zusammen mit Jussialem, dem künstlerischen Gestalter der "Flaschenobjekte" eine Reggae-Party mit gut gemixten Caipirihnas und kleinen Tapas, die sie einst in ihrem Restaurant am "Broadway" anbot.


Besucht es auf Instagram!


Weiter oben am "Broadway", in der Fußgängerzone von Canoe Quebrada arbeitet Pablo mit seinem Team, hier mit Vito, in dem Tattoo-Studio Tendrel. Pablo ist nicht nur ein Tattoo-Künstler, sondern jemand, der ewig zaudernde Zweifler wie mich behutsam in seine Tattoowelt mitnimmt, deren Zeichen, Symbole und Bilder nach seiner Überzeugung dem Körper energetische Kräfte geben und ihn beschützen werden.


Ein Maya- Nahual ist auch für ihn ein "erstes Mal". Er arbeitet akribisch, sehr leidenschaftlich und ist schlicht ein Profi! Ihm verdanke ich eine unerwartete Erfahrung und weniger Zweifel. Und ich bereue nichts!


Ich verdanke diesem Dorf und ihren Bewohnern vor allem, an dem ersehnten Ruhepunkt meiner Reise angekommen zu sein. Es hat etwas länger gedauert ...

Ich liebe die Strandspaziergänge in der Frühe, die mir nie eintönig werden, weil das Meer sich jeden Tag anders präsentiert. Jeden Morgen zieht es sich weit zurück und gibt die Sandbänke und Felsenriffe frei. Es scheint mich einzuladen ein Stück weiter nach draußen mitzukommen, weil von dort der Blick zu den Lehmklippen über die hohen Sanddünen in das Landesinnere noch viel imposanter erscheint. Ein vollkommenes 360 Grad - Panorama!

Und wenn irgendwann die Flut, die Wellen über die Felsenriffe springen lässt, ist es mir nur jetzt in der Frühe möglich, hinter diesen schwarzen Felssteinen zu laufen und mir vom Sand die Füße sanft massieren und sie vom seichten Wasser umspülen zu lassen.

Die Sonne hängt noch tief und ihr Morgenlicht hat einen immer noch kräftig schimmernden Glanz auf dem Wasser. Manchmal verändert es sich mit den vorbei ziehenden Wolken und spielt mit den Facetten der klaren Blautöne um die weißen Schaumkronen.


Dann stürze ich mich gern und ohne zu zögern in die wohntemperierten Wogen.




Am Umkehrpunkt treffe ich auf die inzwischen recht verwitterte Kirche des verlassenen Ortes Porto Canoa, der von Palmen gesäumt wird und trotz trauriger baulicher Geschichte einen morbiden Charme versprüht.




Ich bin selten allein am frühen Morgen. Obwohl die Menschen, die mir begegnen, freundlich grüßen, manchmal auf ein paar Worte auch stehen bleiben, suchen wir alle schnell wieder den Rückzug zu uns selbst und gehen weiter.

Der Klang der rauschenden Wellen legt sich so beruhigend auf die Seele. Die Füße laufen von allein, weil sie glauben, der Horizont ist das Ziel und der ist noch weit entfernt. Die Augen ruhen auf dem natürlich schönem Panorama vom Atlantischen Ozean bis hin zu den weißen Sanddünen über die ockerfarbenen Lehmklippen.

Schließe ich sie, denke ich mit einem seufzenden Atemzug, warum dieser sinnliche Moment nicht für immer zu einem Dauerzustand erstarren könnte.

Die ganze Gereiztheit des Alltags fällt ab. Allmählich lassen mich die unbehaglichen Gedanken der vergangenen Zeit los und ich finde wieder Momente inneren Friedens. Der Tag vergeht, ohne dass die Zeit von einer Zahl definiert ist. Keine Eile. Keine Bedrängnis. Endlich Zeit für Langsamkeit, für Glückseligkeit und Zeit zum Nachdenken.


Die Fischer von Estavão, die ihre "Jangada", ihr Fischerboot ins Meer rollen und sich aufmachen zum Fischfang oder auch für eine kleine Segelfahrt für Tagestouristen, erinnern mich an meine nahe Ankunft auf dem Weg vom Strand hinauf zu den Klippen und dann weiter nach Hause.



Schließlich rasen die ersten Buggys mit Touristen an mir vorbei zu dem in einer Klippe eingemeißelten Symbol von Canoe Quebrada und reißen mich zurück in die Touri-Realität des Strandurlaubs.


Zeit für das Frühstück.


Oft gehe ich danach hinauf zum "Broadway" zur Fußgängerzone, die Touristen in eine Reihe diverser Restaurants, Bars, Souvenirläden und mich eben in einen gut sortierten Supermarkt locken, wo ich mich mit den leckeren exotischen Früchten Nordbrasiliens und allem, was ich so täglich brauche versorge.

Am Wochenende überrennen einheimische, nun häufiger auch ausländische Touristen und vor allem Surfer und Kite-Surfer den kleinen Ort.


Es gibt eine aktive Surfer-Szene hier, Paraglyding über den Klippen, Reiten am Strand, Ausfahrten mit den Segelbooten der Fischer, Kanu fahren ... alles gut umweltverträglich.


... und es gibt Buggy-Touren in die Sanddünen beidseitig am Ende der Strände...nicht umweltverträglich. Laut!

Selbst ein Sonnenuntergang auf einer der höchsten Sanddüne nahe des Ortes ist da kein romantischer Augenblick, wenn eben diese zugeparkt ist mit Buggys & Co und die Party abgeht.

Hier ist anscheinend aber niemand romantisch und beim Thema nachhaltiger und sanfter Naturtourismus ist in den Köpfen der meisten Brasilianer leider sogar noch das Licht ausgeknipst. Manchmal stehe ich einfach nur fassungslos da.


Das kleine Dorf Estavão ist mir ans Herz gewachsen. Mit Layla und Faride, ihrem offenen Haus, wo auch gerne Freunde vorbeischauen und den Jungs Cedrik und Juano hab ich so viel Spaß, viele spannende Begegnungen mit den Dorfbewohnern ob jung oder alt. Ich bin immer umgeben von Musik, weil alle so gern singen, mitschwingen oder eben das Instrument in der Hand haben und lebe mit ihnen entspannt in den Tag hinein. Und ich bewundere ihr stetes Lächeln und ihre unbekümmerte Sicht auf einen nicht immer ganz leichten Alltag als alleinerziehende Unternehmerfrauen.


Ich spüre, wie jeden Tag ein wenig mehr Spannung von mir fällt und dieses Leben am Meer, am Strand und in der Sonne meine Sinne lockern, sich mehr und mehr befreien von schwermütigen Grübeleien und sich meine Gedanken langsam gelöster in die Zukunft wagen und den einen oder anderen Weg konkreter sehen....


Es geht noch einmal weiter nördlich nach "Jeri" (Jericoacoara). Aber kann es noch schöner werden?







Der Abschied fällt mir nicht so leicht, zumal die Mädels, Layla, Faridi und Doria mir nicht nur einen wundervollen letzten Abend herzaubern, sondern weil sie mir die Zeit in diesem fröhlichem Dorf mit den so liebenswerten Bewohnern für mich so unvergesslich machten. Ich habe mich sehr heimisch und herzlich aufgenommen gefühlt und würde jederzeit für eine Auszeit wiederkommen.


Es ist ein Ort, in dem ich alt werden möchte!


Moito obrigada por esse tempo inesquecível!




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