Auf dem Weg zum Vulkan Chimborazo begleitet mich die Familie meines Fahrers Oswaldo. Es ist nicht nur unterhaltsam, sondern gibt mir das sichere Gefühl in guten Händen zu sein. Wir sind bald ein ein Herz und eine Seele.
Das junge Paar verhilft mir, die Bewunderung des Abenteurers Alexander von Humboldts für diesen Vulkan nachzuspüren und seinen unfassbaren Forscherdrang zu begreifen. Auch für die kleine Familie wird es das erste Mal sein, den Chimborazo hinaufzusteigen.
Der majestätische Gipfel weist mir bei strahlenden Sonnenschein den grün gesäumten Weg und erwartet mich mit klarer Sicht auf seine schneebedeckten Hänge. Wir passieren das letzte Dörfchen, bevor das Naturreservat hinauf zum Chimborazo abwechselnde Vulkanlandschaften umschließt. Unterwegs weiden wilde Picuñas, die nur hier, zu Füßen des Vulkans angesiedelt wurden. Wenn sie unbekümmert die Straße kreuzen, muss man schon mal kräftig auf die Bremse treten. Am oberen Hang gleich daneben wird eine Schafherde durch das Gras getrieben. Manchmal durchbricht die Straße auftürmende Lavaschichten vergangener Eruptionen. Schließlich erreichen wir den Eingang zum Naturreservat. Hier treffen wir den einheimischen Guía Manuel, der uns hinauf zum Vulkan begleitet. Der Eintritt in das Reservat ist frei. Es ist bis 15 Uhr geöffnet.
Zur Herkunft des Namens dieses Berges existieren verschiedene Deutungen. Für die Indios der Umgebung ist es schlicht der Eisberg. Nach einer indigenen Erzählung ist der Chimborazo ein heiliger Berg, der den Taita (in Kichwa den Vater), den Mann von Mama Tungurahua verkörpert. Zwischen ihnen liegt ihr "Wawa", das Kind, der Carihuairazo 5018m hoch (Kiwcha: "cari", Mann, "huay", Wind, "razu", Eis).
Vom Mittelpunkt der Erde aus gemessen ist der Chimborazo mit seinen 6310 m der höchste Berg der Welt. Er liegt damit, auch wenn es die Fans des Mount Everest nicht gern wissen wollen, tatsächlich etwas mehr als 2 km höher als der Berg im Himalaya.
Am 4. Januar 1880 erreichte zum ersten Mal der Engländer Edward Whymper den Gipfel des Vulkans. Ehrlicherweise waren es die Indios, die ihn bereits mehrfach und sparsam beschuht bestiegen. Humboldt kletterte ebenfalls im Jahre 1802 auf eine Höhe von 5400m und blieb mehrere Tage, um hier sein berühmtes Naturbild zu skizzieren.
Vielen ist der Anstieg auf den Berg aber auch zum Verhängnis geworden. Ihnen wird oben auf etwa 4800 m Höhe mit einer Steinplatte gedacht.
Vom Eingang aus fahren wir noch einmal etwa acht Kilometer zur ersten Schutzhütte und parken dort. Nach einem Viertelstündchen soll es losgehen nicht ohne ein paar Tipps von Manuel, wie die Anstrengung des Aufstiegs auf über 5000 m Höhe gut zu meistern ist : Seeehr langsam gehen, halten, und tief durch Nase ein- und lang ausatmen, etwas Süßes lutschen und nicht sprechen, um nicht aus dem Atemrhythmus zu kommen. Lieber genießt man die Aussichten, die sich beim Aufstieg immer wieder neu zusammenstellen.
Gut eingepackt starten wir alle zur nächsten Refugio hinauf. Oswaldo und seine Frau Nelly kommen ganz schön aus der Puste, ihr Sohn Said klettert, ja rennt fast hinauf. Zwischendurch staunen wir immer wieder mit Blick auf die Weiten, die uns eher das Gefühl geben auf dem Mond zu wandern. Ab und zu vernebelt sich die Sicht, wir sind mitten in den Wattewolken. Ein paar Schritte weiter erblicke ich den ersten Schnee. Er ist so rein, dass man ihn kurz zum Erfrischen nehmen kann. Nach einem Marsch von nicht einmal 45 Minuten erreichen wir überglücklich unser Ziel. Die zweite, sehr kleine Schutzhüte liegt in 5000 m Höhe und ist nach dem Engländer Edward Whymper benannt. Wir werden noch nicht so schnell hier einkehren. Manuel verspricht uns noch einen unerwarteten Anblick...
Nicht einmal einhundert Meter höher erreichen wir die Minilagune Condor Cocha und wir stiefeln mitten im Schnee. Mittlerweile ziehen so dichte Nebelschwaden auf, dass wir ohne Manuel nicht sicher wären, welchen Weg für den Abstieg wir wählen sollten.
Hier oben rutschen die Gesteinsbrocken bei feuchtem Boden den Hang hinunter.
Man kann sie zwar rollen hören, aber bei diesem Nebel nicht sehen. Da ist mir jetzt nicht so wohl und ich drehe dann doch ab Richtung Abstieg. Wir rasten kurz in der letzten Refugio und wandern schließlich in nicht einmal 20 Minuten zum Parkplatz hinunter, nicht ohne noch einmal staunend rundum zu blicken. Unterwegs trafen wir ein sehr fotogenes Indio-Pärchen, das bereitwillig für ein Foto posierte.Das ist nicht immer so selbstverständlich.
Aus gutem Grund fahren wir in die naheliegende Stadt Guano.
Die Indios gingen jahrhundertelang hinauf zum Chimborazo, um sein Eis aus dem Berg zu hauen. Sie transportierten die Eisblöcke eingepackt im Gras, das sie von den Vulkansteppen herbrachten, auf Eseln hinunter in die Dörfer, um es dort auf den Märkten zu verkaufen. Dieses sehr solide, feste Eis schmilzt erst nach zwei Wochen und enthält viele Minerale. Es wird heute nur noch in einer Fruchtsaft-Bar auf dem Mercado Central in Riobamba für die Zubereitung von Säften verwendet, denen das Bergeis einen besonderen Geschmack verleiht.
Der letzte Hielero (Eismann) ist der 75jährige Indio Balthasar Ushca. Er geht heute noch zweimal in der Woche mit seinen Maultieren zum Chimborazo hinauf, um das heilige Eis zu holen.
Ihm ist der Titel des einzigen lebenden Weltkulturerbes verliehen worden. Ich treffe diesen besondern Mann im Museo de la Ciudad de Guana. Ein einmaliges und sehr ehrenvolles Erlebnis. Ein unverhofftes Glück!
Man trifft ihn immer samstags im Museum, um dort den Besuchern über seine Arbeit , wenn auch in Kiwcha zu erzählen. Es macht ihm sichtlich Spaß.
Oswaldo, mein Begleiter, kann mir helfen, mich mit ihm zu verständigen.
Die kleine Familie aus dem Dorf Guamote an meiner Seite bemüht sich rührend, mir immer wieder, ihr alltägliches Leben zu erklären, mir von ihren Bräuchen zu erzählen und mich zu noch mehr wunderbaren Naturbildern zu fahren, weil sie mich so in Erstaunen versetzen. Es freut mich zu sehen, wie sehr auch sie all diese gewaltigen Eindrücke mit mir teilen und sie mit Stolz auf ihr schönes Ecuador erfüllt.
Auf dem Rückweg halten wir an der Schlucht von San Juan an, um ehrfurchtsvoll in ihre Tiefe zu schauen und inne zu halten in Gedanken an einen Tag voll unvergessener Eindrücke.
Im Rückblick auf einen der vielleicht bedeutendsten Tage meiner Reise bin ich überwältigt von der noblen Erscheinung dieses weißen, noch immer leise brummenden Vulkans, der sich zu seinen Füßen mit allem schmückt, was die Natur bietet: mit einer saftig grünen Flur, mit dichten Graslandschaften, mit kargen Lavaböden gesprenkelt mit tausenden Gesteinsbrocken und trotzend im Erdboden saugenden Flechtengewächsen, mit tiefen unzugänglichen Schluchten, alles beleuchtet von strahlendem Sonnenlicht, dann auch verhüllt von Wattewolken oder eingetaucht in sanfte Nebelschwaden.
Ich kann so gut nachempfinden, warum Alexander von Humboldt so besessen und unaufhörlich in dieser Natur wanderte, sammelte, beobachtete und sie so begeistert in seinen Büchern beschrieb.
Ich denke, dass die Indios schon sehr lange dieses Geschenk der Natur zu schätzen wissen und in Ehren halten, weil sie von ihr nehmen, was sie wirklich brauchen und ihr geben, was sie erhält: ein maßvolles und zufriedenes Leben im Einklang mit und Demut vor der Natur, die sie Pachamama (Mutter Erde) nennen. Mit innerer tiefer Verneigung verabschiede ich mich vom Chimborazo.
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