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  • AutorenbildSylvia Thiel

Santiago de Chile - Ende Oktober 2019

Aktualisiert: 23. Nov. 2019

Als ich am 26. Oktober, einem Samstag, nach einem pünktlichen und gepflegten Flug eines Billigfliegers in Santiago de Chile ankomme, ist die Stadt nach einer historischen und friedlich verlaufenden Großkundgebung mit weit mehr als einer Million Menschen am Vortag zunächst in Stille eingetaucht.


Ich beziehe ein sehr komfortables Studio von Amistar Apartements in einem der großen Türme im Zentrum der Stadt, unweit des Cerro Santa Lucia, der mir von meinem Fenster aus einen wunderschönen Anblick bietet. Das Team des Hotels ist brillant und bietet einen ausgezeichneten Service. Jeder Sorge nimmt sich das Personal mit Herz und Hingabe an und löst alle Probleme geduldig und ruhig im Sinne seiner Gäste. Wenn es auch draußen rebellisch auf den Straßen tobt, gibt das Team von Amistar ein tröstendes Gefühl wenigstens bei ihnen sicher zu sein und irgendwie auch Tipps, Santiago doch noch zu entdecken, dann eben etwas außerhalb der Unruhen. Die Küche ist mit allem ausgestattet und das geräumige Appartement absolut stilvoll und gepflegt eingerichtet. Zum Wohlfühlen und Wiederkommen!


Aufgrund der turbulenten vergangenen Rebellionstage in der Stadt beschließe ich zurückhaltend vorsichtig und auch vor Müdigkeit träge den Rest des Abends in meinem ruhigen und gemütlichen Appartement zu verbringen. Nach dem Lärmterror in Lima genieße ich diese einkehrende Ruhe und auch die "Cacerolazos", die Töpfe schlagenden Demonstranten, die friedlich durch die Straßen ziehen, stören mich gar nicht. Im Gegenteil. Ich habe schon oft von dieser so typischen lateinamerikanischen Protestbewegung gelesen, dass es eigentlich aufregend ist, sie live nun zu hören.



Am nächsten Tag zieht mich die Neugier hinaus und ich schlendere zu den "Kampfstätten" vergangener Tage rund um den Plaza Italia. Die Schäden der gewaltsamen Proteste zu Beginn der Unruhen sind enorm. Viele Häuser, selbst historische Bauten sind mit politischen Parolen verschmiert, einige U-Bahn-Stationen immer noch gesperrt, sämtliche Bushaltestellen, Straßenlaternen, die Glasfassaden "kapitalistischer" Einrichtungen wie des Edificio de Comercio zertrümmert.


Am Plaza Italia liegen Blumen und gebastelte Friedenstauben zum Gedenken an die getöteten Opfer dieser Unruhen. An manchen Plätzen versammeln sich Menschen, um über die aktuelle Lage zu diskutieren und Forderungen zu formulieren. " Chile de despierta", das aufgewachte Chile, ein Slogan der durch die Straßen zieht.


Aber viel mehr berührt mich, wie engagiert und vereint am Sonntagmorgen sich die Chilenen jeden Alters treffen, um sich an den Aufräumarbeiten zu beteiligen. Ich beobachte, wie Menschen an den beschädigten U-Bahn- Eingängen Graffiti-Parolen mühsam von den Wänden schrubben, die Wände auch vieler Häuser der Stadt neu anstreichen, die Scherben zusammenfegen.

Immer mehr kommen gleich mit Putzwerkzeug in der Hand dazu und gegen Mittag scheint die ganze Bevölkerung Santiagos sich dieser Aufgabe zu widmen, um Verantwortung für die Verwüstungen zu übernehmen und ihre Stadt wieder ansehnlich zu verschönern. Respekt!



Alle aktuellen Entwicklungen und Hintergründe für euch live gesammelt im Artikel "Südamerikanischer Krisenfrühling". Schaut dort mal rein...


Das alltägliche Leben in Santiago versucht sich zu arrangieren mit den tagelang anhaltenden zum Teil heftigen Unruhen. Ich besinne mich auf sehenswerte und historische Orte und weil mich der Cerro Santa Lucia jeden Tag so freundlich anlächelt, steige ich hinauf bis zu seinem Aussichtsturm. In dieser kleine Parkanlage befindet sich das Castel Hidalgo und ein kleiner herrlicher Rundgarten. Auf dem Weg hinauf bietet sich an verschiedenen Stellen ein immer anderer und faszinierender Blick über die moderne Hauptstadt Chiles. Auf dem Gipfel dieses kleinen Hügels steht man auf dem Mirador Torre, dem Aussichtsturm und genießt atemberaubende Aussichten auf die Stadt.

Wenige Minuten fußläufig von meinem Hotel entfernt, vorbei an der roten Kirche La Merced treffe ich auf den weitläufigen Plaza de Armas. So heißen in fast allen lateinamerikanischen Städten die Hauptplätze, auf denen sich Bewohner der Stadt auf den gemütlichen Parkbänken unter schattigen Bäumen treffen, um zu plaudern, Eis und andere Schleckereien zu genießen, manchmal aber auch um den singenden, musizierenden oder die Leute unterhaltenden Laienkünstlern zuzuschauen. Hier herrscht ein ähnliches Treiben umrahmt von einem stilvollen Ensemble historisch alter Gebäude und Wolkenkratzer der modernen Architektur.

Die unruhigen Tage hier schränken jegliches Sigthseeing- Unternehmen ein. Die meisten Museen, denen ein exzellenter Ruf nachgesagt wird, werden bestreikt und sind geschlossen. Leider kann ich nur ihre schönen verzierten Fassaden bewundern.

Hier die herrschaftlichen Gebäude des Museo de Bellas Artes mit wechselnden Ausstellungen zu chilenischer und europäischer Kunst, des Museo Chilene de Arte Precolombino, also einer ausführlichen Präsentation der 4500 Jahre alten Geschichte der präkolumbianischen Zivilisation Nord- und Südamerikas und des Museo de Santiago über die Stadtgeschichte. Da Santiago immer wieder Ausgangspunkt meiner Reiseziele in Chile sein wird, hoffe ich doch noch, wenn sich die Lage in nächster Zeit beruhigt, einen Blick in diese Museen werfen zu können.

Ich mag diese Stadt. Sie bietet dir alles, ... "lo que tu busquas.", so verspricht es eine Werbung in der Innenstadt. Gepflegte Parks mit zahlreich aufgestellten Parkbänken mal in der Sonne, mal im Schatten. So ist auch auf vielen Plätzen, deren Palmen die schattigen Dächer formen und Spatzen und Tauben dich geschwätzig unterhalten. Menschen erholen sich, die gerade in diesen Tagen hier die Ereignisse der rebellischen Tage diskutieren.



Immer wieder erblicke ich beim Schlendern durch die Straßen und manchmal kopfsteingepflasterten Gassen alte kolonialprotzige und historische Gebäude, deren Fassaden reichlich verziert sind und so manche Regierungsinstitution wie Ministerien und das Parlament beherbergt. Dann sehe ich wiederum hinauf zu einfachen Wohngebäuden geschmückt mit den klotzähnlichen Generatoren der Klimaanlagen, zu hohen Glastürmen und niedrigstöckigen Wohnhäusern. Mehr an architektonischer Vielfalt kann eine Stadt nicht bieten. Immer wieder bleibe ich stehen, um das so bunte und abwechslungsreiche Ensemble zu betrachten.


Vielfalt und Vielseitigkeit scheint das Credo von Santiago de Chile und ihrer Bewohner zu sein. Ich bin manchmal so überwältigt von den überraschenden Bildern, unerwarteten Begegnungen und faszinierenden Anblicken der Innenstadt. Die Menschen zeigen ungezwungene Lebenslust und versprühen ein positives Lebensgefühl trotz des gegenwärtigen allgemeinen Aufbegehrens gegen den existentiellen Notstand vieler Chilenen. Ihre offenen und freundlichen Gesten, ihre bereitwillig hilfreichen Auskünfte legen sich wie Balsam auf meine kürzlich erlebten Enttäuschungen und stimmen mich jeden Tag, den ich hier verbringe, ein wenig milder. Sie wissen ihre Besucher zu schätzen und laden sie auf eine unbeschwerte Art ein an ihrem Leben teilzunehmen.


Der typisch rege Verkehr einer Großstadt regelt sich im rücksichtsvollen Umgehen mit den Fußgängern und Fahrradfahrern und einem geduldigen huparmen Warten vor einem geregelten Ampelsystem. Es kommt mir deshalb in den Sinn, weil es mir noch einmal den nervenaufreibenden und psychisch zerstörerischen peruanischen Straßenverkehr in Erinnerung ruft.


Santiago de Chile vertreibt meinen Trübsinn vergangener Reisetage und belebt meine Neugier von Neuem.



In den Einkaufszonen der City findet sich alles, was das Herz begehrt... immer sofort und gleich, in allen Varianten und Preisklassen, schön geordnet in jedem "Paseo" nach einer bestimmten Produktpalette. Paseo Ahumada, zum Beispiel ist die Schuh-Zone. Die Calle Miraflores, die "frutas secas"- Passage, Huerfanos, die Banken- und Cafézone, die von H&M und Co., die verlängerte Bandera ist die Paseo für "Ropa usada", also so etwas wie Second Hand und Billigware... eigentlich genial ausgeklügeltes Modell.


In den Fußgängerzonen handeln Straßenverkäufer (auch aus Ecuador kommend) an beiden Seiten mit "Gucci"- Sonnenbrillen, Halloween-Kostümen, Schmuck, Stirnbändern, Kopf- und Halstüchern. Dazwischen lässt man sich die Schuhe putzen, nachdem man sich am Zeitungsstand eine "periódoco" oder eine "revista" oder ein gebrauchtes Buch gleich daneben erstanden hat. Selbst Straßenkunst ist im Angebot während der Künstler die Malerei live entstehen lässt. Livemusik von Straßenmusikern unterhalten die Leute.

Und dann geht es auch immer ums Essen: frutas frescas y secas, mani (Erdnüsse) und Bonbons wegen Halloween.


In den Geschäften dahinter geht man in den etwas höheren Preisklassen und mit anderer Auswahl einkaufen und in den zahlreichen, thematisch geordneten Einkaufspassagen findet man noch mehr Auswahl und mitunter mehr Ruhe beim Suchen. Ich lasse mich ein bisschen von dem Kaufrausch anstecken und erstehe ein paar warme Kleidungsstücke für die Reise nach Patagonien.

Es ist Ende Oktober. In Santiago ist Frühling, 27 Grad warm und es strahlt im herrlichstem Sonnenschein. Die Parks sind grün und die Papageienblumen und weißen Callas blühen in der freien Natur. Zum ersten Mal entgehe ich dem kalten, regnerischen Herbst in meiner Heimat. Keine Spur vom nahenden Novemberblues.

Das tut richtig gut.


Santiago de Chile ist insgesamt viermal mein Referenzpunkt, um zu verschieden Orten zu kommen. Dreimal wohne ich im Hostel Sahara Inn, das wegen seiner zentralen Lage mir immer günstig erschien. Es liegt etwa 300 m von der U-Bahn Station "La Moneda", 500 m vom Busshuttle (Los Heroes) zum Flughafenund gut einen Kilometer vom Stadtzentrum rund um den Plaza de Armas entfernt. Es bietet ein ausgiebiges Frühstück, das Personal berät mich immer gut, bestellt Taxis und hilft bei Formularen, wie z.B. die Einreiseerlaubnis auf die Osterinseln. Außerdem ist dieses Hostel vergleichsweise günstig.

Es bleiben mir wegen der ungewöhnlichen Ereignisse während meines Aufenthalts einige sehenswerte Highlights der Stadt, vor allem die Museen verschlossen. Das Antlitz Santiagos ist getrübt durch zerstörte Beleuchtungen und Ampelanlagen, verwüstete U-Bahn- und Busstationen, verschmierten Wänden besonders auch vieler historischer Gebäude. Immer wieder erinnern abgesperrte Straßen, hoch bewaffnete Carabineros mit ihren gepanzerten Einsatzfahrzeugen und früh schließende Geschäfte, Streiks und Buschaos an anhaltende Proteste und Unruhen.


Es wird Zeit weiterzureisen.

So breche ich nun etwas bekümmerten Herzens über für mich unentdeckte Orte meine Reise in Chile vorzeitig ab. Dennoch bin ich keinesfalls enttäuscht darüber, denn dieses Land bot mir eine so großartige Kulisse neuer Abenteuer und Entdeckungen, die mich oftmals so staunend und überwältigt stehen ließ.


Mehr kann man gar nicht verarbeiten an unvergessenen Eindrücken. Und oftmals ist weniger auch mehr.


Ich bin mir ganz sicher, dieses Land in naher Zukunft ein weiteres Mal zu besuchen.

Mit ziemlicher Neugier werde ich dann auf das erwachte Chile, das " Chile despierto" und das erhoffte bessere Leben der Chilenen nach der vollbrachten neuen Verfassung erleben, nach den Spuren der einstigen Protestbewegung suchen, endlich die Museen besichtigen können und auch andere, im Moment unerreichbare Orte, wie die Atacama-Wüste und die sehenswerten Städte des Nordens, wie Antofagasta, Iquique oder Arica besuchen.


In La Serena, einer nördlicher gelegenen Stadt am Meer verbringe ich nun eine letzte Woche, um die neue Reiseroute zu planen.


Hasta la próxima, Chilenos. Que les vaya bien!

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