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  • AutorenbildSylvia Thiel

Definiere "Heimat"!

Aktualisiert: 2. Sept. 2019

Heimat…Damals fühlt sich schrecklich anders an!


Im August 2019 verbringe ich längere Zeit in der alten Heimat Schwerin bei der Familie. Vieles hat sich verändert. Oder doch nicht?



Noch hier verweilend bin ich zerwühlt, kann mich kaum milde stimmen. In Gedanken trage ich Erinnerungen an wohltuende Familienbesuche vergangener Jahre, was mir nun ernüchternder erscheint. Ich erlebe eine Ent-Täuschung über vermeintlich vertraut gebliebene Familienbande, aber jeder von uns in der Familie lebt nun ein eigenständiges Leben und mir kommt die verblüffende Erkenntnis, dass Schwerin eine eher provinzvermiefte als eine Stadt beschaulich ausstrahlender Ruhe ist.





Von der Ferne betrachtet ist nichts mehr wie es einmal war. Ich schmolle mit allem: mit den wieder mal verregneten Sommertagen hier, mit unangenehmen Gerüchen, die in den Genussetagen der Einkaufsmalls in der Altstadt schweben, mit den zu jeder Stunde kauenden und schleckenden Einheimischen in scheinbar tausenden Eisbuden, Back- factories, Grillwürstchenbuden und Möbelrestaurants, mit den viel zu frühen Schließzeiten der Läden und einladenden Lokalitäten, die leider auch bei prächtiger See- oder Schlosskulisse kaum besucht sind und einheitlich den Montag als Ruhetag erkoren haben.





Im seeehr gemächlichen, ja fast lähmenden Tempomodus einer zumeist älter gewordenen oder touristisch wandelnden Menschenmenge treibe ich zunächst gedankenvertieft mit, drängele schließlich vorbei. Das hat nun wirklich nichts mehr mit meinem Entschleunigungswillen zu tun!


Die Menschen erscheinen mir weniger bunt. Oder nein, bunt schon, nur anders, (einheits-?)bunt und im modisch wiedererkennbaren Stil: knallrote, pink-blond-blanchierte oder bläulich-gefärbte Haargeschöpfe, irgendwie unliniert rasierte, ungleich geformte Frisen, gekleidet in den allgegenwärtigen Modelinien der hiesigen Shoppingcenter, verziert mit Ganzkörpertattoos.


Meine erstaunten Blicke richten sich vertraut und befremdlich zugleich auf die wenigen fremdländische Menschen, die hier für wohl schon extraterrestrische Wesen gehalten werden. Ich zähle mich dazu, fühle mich ständig gemustert. Wir sorgen wohl für einen weniger weltfremden Anblick dieser Stadt!


Mein Griesgram steigert sich, wenn ich durch die Altstadtstraßen schlendere, bei einem guten Kaffee das bunte Treiben beobachte, norddeutschen Dialekten lausche und mit dem einen oder anderen Ortskundigen plaudere.


Ich erinnere mich an einem aus dem Westen immigrierten, eigentlich unternehmungslustigen Schweriner Freund, dem ich einmal etwas vorwurfsvoll die Frage stellte, wer ihn eigentlich so miesgrämig und unzufrieden gemacht hätte über die Jahre und bilde mir ein, dass dies vielleicht mit den provinzquietschenden Schwingungen der Stadt zusammenhängen mag.


Es muss diese unverwüstlich anfühlende Verbundenheit der Schweriner sein, der man loyal verpflichtet ist bis zum Ende. Alles haucht den Touch einer einheitlich moralisierten Gemeinschaft, wo jedermann sich zu benehmen hat, möglichst unauffällig bleibt, im Gleichschritt trottet wie eben von je her gewachsen. "Benimmse" wird sehr eng definiert und schlechte Manieren mit strengen Blicken und empörten Räuspern geahndet. Es verlangt nach einem (bitteschön!) lieber gelenkten Freigeist in einer ostdeutschen Beamtenstadt, die einer hierarchischen Gehorsamkeit folgt und von kleinstädtischem Klatsch und Tratsch bestimmt wird. Man bleibt genügsam in Bezug auf vielseitig kulturellen Schöngeist; das Schweriner Theater macht es immer noch brillant, Kultur kann man sich hier insgesamt kaum leisten, man sitzt eh lieber gemütlich zu Hause. Und ein Streetfood-Markt? „Neumodischer Quatsch“!, so kommentiert die heimische Straßenvolkspolizei. Wenige sind gekommen, um hier etwas Neues zu probieren.


Bei einigen Treffen mit Freunden und Anverwandten erlebe ich ähnliche Szenen, die mich schmunzelnd zurücklassen: Ein Großstadtweichei wie ich wird generös und offenherzig zu ostalgischen Grillabenden im Garten mit der Datsche oder in das aufgepimpte Haus eingeladen, dann erst ungläubig, dann mitfühlend beäugt, wenn ich von meinem Multikulti-Kiez, dem Vintage-Mode-Nachhaltigkeit-Hype, dem CSD, den Salatbars oder von meinen Auszeit-Plänen erzähle („Das macht man nicht!“), um mich schließlich aufmunternd und schulterklopfend für ein paar Stunden in ein „anständiges“ Leben warmherzig aufzunehmen. Sehr rührend. Die Welt endet hier eben an der Stadtgrenze (und das Universum ein Stück weiter an den Landeslinien). Ohne diese Welt wähnen manche Ureinwohner Schwerins, unbeeindruckt vom neuen Zeitgeist (eingezogen vor immerhin schon 30 Jahren!) zufrieden vereint und sicher zu leben.

Okay, was soll’s. Dann wohl an, dem noch mehr von diesem Glück beschert ist.


Sie sind schon eine sehr verschlossene, mürrische und wahrhaft sture Spezies, diese nordisch-herben "Schieter", aber hat man ihr Herz aufgeweicht und berührt (und weiß sich zu benehmen!), nehmen sie jeden bedingungslos herzlich in ihre norddeutsche Gemeinschaft auf.


Nichtsdestotrotz genieße ich die wunderbaren Aussichten auf die Stadt, von welcher Seite auch ich mich ihr nähere, kann mich gar nicht satt sehen an den pittoresken Farben der Seenlandschaften und verewige malerisch wirkende Naturschönheiten auf Ausflügen per Rad auf bestimmt tausenden von Fotos.



Heimat ... Die Zeiten ändern sich... Heimat auch!


Die Misslaunigkeit legt sich, wenn ich mir überlege, ob mich nicht eine patriotische Selbstverteidigung auf die mir in 30 Jahren neue und lieb gewordene Heimat Berlin ergreift. Was kann berührender sein als der Ort, an dem das eigene Leben sich so gut anders anfühlt.



Ich vermisse sie gerade, die Stadt Berlin: die bunte und schräge Artenvielfalt der Menschen und meiner Freunde, die nicht nur ich bewundere, die manchmal ungefilterten und riskanten Berliner Unworte und #notesofberlin, die fluchen, verfluchen und am Ende alle einen, den Sonnenschein, der dann eben im Gemüt der Leute bleibt, auch bei schlimmsten Regentagen, die kulinarischen Sensationen um die und an jeder Ecke genau wie das originelle Streetfood im Thai-Park und auch anderswo, Vintage und noch mehr stylische Raritäten, die betonte Gelassenheit, bei allem, was nur schief laufen kann bei der BVG, den kosmopolitischen Wirbeltanz in meinem Kiez, das fast schon erdrückende, weil endlose kulturelle Angebot (wo soll ich nur hin?), den spürbaren Zeitgeist (= Nachhaltigkeit), den allgegenwärtigen Schöngeist (= morgens zum Brunch, irgendwann in die Ausstellung, abends guten Wein dort oder hier) und vor allem den unbändigen Freigeist in dieser Stadt. (= Sei, wer du bist. Sei Berlin!)


Und auch das bist du, Berlin: du bist viel zu laut, einfach nur hektisch, immer getrieben von der Zeit, ständig in Eile. Du bist genervt von alltäglichen Staus im Stadtverkehr und den Millionen von Touris, vom Kampf um den Parkplatz unweit der Haustür... ein Traum oder Albtraum, bedrückt über bettelarme Migranten und Obdachlose, ausgebremst von Demos-for-future und Sperrungen, von Events und Sperrungen, von Polizei-Tatütata und Sperrungen. Berlin, du bist exorbitant teuer und wirst immer teurer, du stinkst und smogst, du nervst! Ich brauche eine (R)Auszeit!


Und dennoch: Berlin, ick liebe dir!
Und dennoch: Berlin, ick liebe dir!



Heimat ... Irgendwo ist immer Heimat


Vieles höre ich über die Heimat und es stimmt.


„Heimat ist dort, wo man sich wohlfühlt.“ „Heimat ist da, wo die Rechnungen ankommen.“ „Home is where my computer is.“ Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss.“ „Heimat, du bist immer da, wenn ich keinen zum Reden hab.“





Johannes Oerding besingt die Heimat wohl so wie wir sie alle fühlen:








Ich sehe das so:


Heimat sind die Orte unserer Lebensreise. Es sind Orte, an denen wir uns für eine kurze oder auch lange Weile und aus einem guten Grund willkommen fühlen. Wir sichern uns die Heimat nicht nur durch den Ort, sondern auch durch die Art, wie wir dort eine Zeit lang leben oder leben wollen.


Schwerin, Berlin ... in einer richtigen Zeit schlug und schlägt mein Herz intensiver für die eine oder andere Heimat und hat dort meine Spuren hinterlassen wie diese Orte auch die Ihren in meinem Leben.


Während des Reisens haben mich manche Orte zum längeren Verweilen überredet oder mir das Gefühl gegeben, vielleicht auch einmal eine Weile meine Heimat zu werden aus gefühlt guten Gründen: um mit der Liebe meines Lebens genug Zeit zu verbringen wie auf der Isla Mujeres in Mexiko, um eine ganz freie Schule zu lehren wie in San Pedro la Laguna in Guatemala, um in einer Sprachschule zu arbeiten wie in Palomino in Kolumbien oder um die bunten Blätter des Herbstalters zu genießen wie auf der Isla Margarita in Venezuela, Hauptsache das Meer oder einen riesigen See in der Nähe.



Egal, wo meine Heimat war, ist und sein wird, sie ist nur vollkommen, wenn die Familie im Herzen bleibt und meine Kinder Anna und Ole auf ihrer Lebensreise gern ab und zu ihren Anker bei mir auswerfen.

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